François Höpflinger
Fremde sehen die Stadt Zürich - Zürcher Stadtsatiren

Nach dem Beitritt der Schweiz zur UNO nahm eine südländische Expertengruppe der neugegründeten internationalen Entwicklungshilfeorganisation HOPE ("Helping Overdeveloped People", Hilfe für Überentwickelte) kürzlich die Stadt Zürich unter die Lupe.
Nachfolgend Ausschnitte aus dem geheimen Bericht der sechs Experten:

Zürich - Stadt des verdeckten Reichtums

Die Zürcher Eingeborenen sind ein sympathisches Völkchen, obwohl sie gegen aussen eine professionelle Griesgrämigkeit an den Tag legen. Die Zürcher sind Weltmeister im Klagen ohne zu Leiden; ein untrügliches Zeichen für Überentwicklung. Obwohl die Stadt Zürich einen der höchsten Pro-Kopf-Anteile an Millionären aufweist, ist in öffentlichen Diskussionen hauptsächlich von Armut, Defiziten und Spardruck die Rede. Während sich in anderen Ländern Menschenschlangen vor Brotläden oder Musentempel bilden, finden sich in Zürich die längsten Warteschlangen vor den Banknoten-Spuck-Automaten (dem Urgott UBS gewidmet). Der Versuch von Experte Xomi, einen dieser Altare zur Untersuchung mitzunehmen, scheiterte am Widerstand von Eingeborenen, die ihn mit Bankflüchen belegten. Tatsächlich litt Xomi später bei jeder Berührung mit Schweizer Banknoten an einem heftigen Hautjucken.

Zürcher verstecken ihren Reichtum gerne, was - so unser Gewährsmann, Taxifahrer Walter - auf einen gewissen Zwingherr zurückzuführen ist. Dies konnte unsere Expertengruppe in eindrücklicher Weise belegen. Weder gelang es uns, einen dieser berüchtigten Zürcher Gnomen zu fangen - und Expertin Jaani ist der Meinung, dass es sich hier um einen reinen Geld-Schöpfungsmythos handle - noch fanden wir an der Bahnhofstrasse irgendwelche Anzeichen von Machtballungen. Die Bankhäuser sind verdächtig klein und wirken fast niedlich, verglichen mit den emporragenden Wolkenkratzern New Yorks. Der Versuch, die These von den Goldbarren im Zürcher Untergrund durch Probebohrungen an der Bahnhofstrasse zu testen, scheiterte an aufmerksamen Tramgästen, und eine Lohnumfrage in zwei Zürcher Bars endete mit dem Rauswurf unserer Experten. In jedem Fall zeigen die Einheimischen - was Offenheit gegenüber Geld betrifft - starke Tabus. Selbst der Versuch von Historiker Thepi, das Denkmal von Zwingherr zu betrachten, führte in die Irre. Als Thepi beim Ort des Denkmals antraf, hatten Einheimische die Statue verschleppt und versteckt. Einige der politisch mächtigen Zürcher üben sich ebenfalls in professioneller Bescheidenheit, was bei Aussenstehenden leicht zu Missverständnissen führt. So hielt Experte Lino mit einem prachtvoll eingekleideten Mann ein ausführliches Interview zur wirtschaftlichen Lage der Stadt Zürich. Erst nachträglich erfuhr er, dass es sich hierbei um einen Stadtpolizisten gehandelt hatte. Der Stadtpräsident war jene unauffällig-nette Person neben dem Polizisten, welche dem Interview beiwohnte, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Die Frage, wie die Zürcher Eingeborenen zu mehr Offenheit gegenüber ihrem Reichtum entwickelt werden könnten, löste in der Expertengruppe heftige Diskussion aus. Expertin Mbema war der Ansicht, Bescheidenheit und versteckter Reichtum sei der uramerikanischen Prahlerei mit Geld und Wohlstandssymbolen jederzeit vorzuziehen. Ihre Meinung wurde von der Mehrheit verworfen. Die Expertenkommission gelangte mehrheitlich zu folgender Empfehlung: Öffentliche Markierung - zum Beispiel durch Goldlack - aller Plätze der Stadt, wo sich Macht und Reichtum sammeln. Zudem sei jährlich eine Parade der Zürcher Millionäre durchzuführen (nach Meinung des Historikers Thepi sei diese Forderung allerdings schon in Form des Umzugs der Zünfte am sogenannten Sechseläuten erfüllt).

Wichtigste Empfehlung der Expertengruppe zur Bekämpfung von Überentwicklung ist jedoch die Einführung einer progressiven Klagesteuer: Wer in kulturpessimistischer Stimmung klagt und schimpft, zahlt dies bar. Gemäss ökonomischen Berechnungen würde die Klagesteuer gemäss aktuellem Zürcher Klagestand die gesamten Infrastrukturausgaben der Stadt decken.


Kinder - eine aussterbende Minderheit

Wir waren schon einige Tage in der Stadt Zürich, bevor wir die ersten freilaufenden Kinder sichteten. Kinder sind auffällig selten; ein klarer Hinweis auf Überentwicklung.

Gespräche mit Einheimischen belegen, dass viele Frauen und Männer diesen Zustand beklagen. Ein älterer Eingeborener - den wir vor seinem Kleidergeschäft antrafen - befürchtete das Aussterben der Stadt. Unser Vorschlag, in dieser Situation Kinder aus anderen Ländern zu importieren, stiess bei ihm jedoch nicht auf Verständnis (und wir mussten ihn durch einen Einkauf besänftigen). Jedenfalls - so unser Resultat - lieben auch die Zürcher und Zürcherinnen Kinder über alles, zumindest abstrakt. Alle sind für mehr Kinder in der Stadt, aber nur wenige haben mehr als zwei Kinder. Viele Eingeborene bleiben ihr Leben lang kinderlos. Autos sind häufiger, haben mehr Platz und werden intensiver gepflegt als Kinder.

Die Stadt Zürich hat - um die positiven Seiten zu erwähnen - einige gut geschützte Kinderreservate, Spielplätze genannt. Diese Spielplätze - von Kindern und Hunden gemeinsam genutzt - haben einen hohen Standard. Sie sind allerdings enger und eingeschränkter als etwa die Indianerreservate der USA.

Expertin Sha'at ist der Ansicht, der Kinderarmut in der Stadt Zürich hätte mit fehlender sexueller Aufklärung zu tun. Vielleicht sei vielen unbekannt, wie man/frau zu Kinder komme. In dieser Stadt ist sonst alles einzukaufen, in Läden, Warenhäusern, Versicherungen, Banken, Restaurants usw. Nur Kinder erhält man in keinem Einkaufsparadies. So sei es für viele Zürcher ungewohnt, etwas selbst zu produzieren. Statt zu bestellen und innert kurzer Zeit zu erhalten, sei neun Monate auf das Kommen eines Geschöpfs zu warten, das bei Lieferung unvollständig entwickelt sei und erst nach jahrelanger Pflege und Betreuung wirtschaftlich brauchbar werde. Expertin Sha'at schlägt gezielte Do-it-yourself-Kurse Kinder-kriegen vor. Dieser Meinung konnte sich die Mehrheit der Experten nicht anschliessen. Gerade bei überentwickelten Völkern sei Familienförderung sehr heikel (und familienpolitische Entwicklungsprojekte für die Schweiz seien bisher meist gescheitert).

Eine Gruppe junger Mütter - welche wir in einem Kinderreservat trafen - beklagte sich über die Kinderfeindlichkeit der Stadt Zürich. Mit Kleinkindern und Kinderwagen sei ein Durchkommen in der Stadt sehr schwierig. Diese Aussage konnten wir durch einen empirischen Test eindrücklich bestätigen. Experte Lino organisierte fünf weibliche Eingeborene, welche den Auftrag erhielten, mit ihren Kinderwagen von Altstetten bis nach Oerlikon zu gelangen. Tatsächlich erwies sich diese Fahrt als nerven- und kraftraubender Marathon mit spannenden Hindernissen. Die fünf Frauen erhielten zum Dank für ihre Mitarbeit von uns je ein Exemplar der UNO-Kindrechtskonvention geschenkt. Nach Ansicht von Experte Lino bietet ein solcher Kinderwagenmarathon mehr Anforderungen und Spannung als das jährliche Zürcher Sechstagerennen. Zur Förderung der Kinderfreundlichkeit der Stadt Zürich sollten - so die einhellige Empfehlung der Expertengruppe - alle Stadtpolitiker mindestens einmal mit einem Kinderwagen die Stadt durchqueren (aus Sicherheitsgründen mit einer Gummipuppe und nicht mit echtem Baby).

Zur Bekämpfung diesbezüglicher Überentwicklung schlägt die Expertengruppe von HOPE weiter vor, auch in der Stadt Zürich ein Kinderparlament einzurichten. Experten Xomi und Thepi zeigen sich zudem überzeugt, dass eine verstärkte Infantilisierung der Stadtpolitik nützlich wäre (z.B. durch Einrichtung einer parlamentarischen Spielgruppe). Expertin Jaani ist - nachdem sie die Diskussionen im Stadtparlament verfolgt hat - der Ansicht, erste Schritte zur Infantilisierung der Politik seien schon eingeleitet worden.


Buchegg-Platz: Verkehrsmischung - verkehrte Mischung?

Auf der Suche nach einem typischen Zürcher Verkehrsknotenpunkt stiessen wir auf den sogenannten Bucheggplatz. Der Bucheggplatz ist kein Platz des Verweilens, sondern ein Platz der Mobilität. Buchen oder Bücher sucht man am Bucheggplatz im übrigen vergeblich. Positiv zu vermerken ist immerhin, dass Zürich - im Unterschied zu ähnlich überentwickelten Städten Deutschlands - ökologisch einigermassen saubere Strassennamen kennt.

Auffallend ist rechts am Bucheggplatz eine kleine Wiese mit einer bunten Kunstfigur auf einer Leiter, die ins Nichts ragt. Für Historiker Thepi ist dies eindeutig eine verkürzte Jakobsleiter, welche den Weg in den Himmel weist. Verkehrsexperte Lino ist der Ansicht, hier handle es sich um eine Fehlplanung, da die Leiter nicht dort stehe, wo sie nutzbar wäre (nämlich als Hilfe für den Einstieg gehbehinderter Menschen in Zürcher Trams).

Die Zürcher sind ein sehr mobiles Volk, und sie gehören gemäss Experte Xomi zu den typischen Vertretern der Stundennomaden. Im Gegensatz zu den klassischen Nomaden haben die Zürcher zwar ein festes Zuhause, aber täglich sind viele Frauen und Männer stundenlang unterwegs, um irgendwelche geheimnisvolle Pendelrituale zu absolvieren, mit dem Auto, mit dem Zug, Bus, Velo oder - wenn jung und behende - auf Rollbrettern.

Am Bucheggplatz konnten wir das Neben- und Durcheinander der verschiedenen Verkehrsteilnehmer unauffällig und in aller Ruhe beobachten. In dieser geordneten, mobilen Welt der Verkehrsmittel sind - so wurde uns bald klar - einzig die Fussgänger benachteiligt. Den Bucheggplatz zu Fuss zu verlassen, ist mit Umwegen verbunden, und ein direktes Überqueren des Platzes ist nicht ungefährlich. Nur wenig hätte gefehlt, und Experte Xomi wäre im Verkehrsfluss ertrunken (Seine Rechnung für die Gefahrenzulage findet sich im Anhang).

Fussgänger gehören - so das sonderbare Ergebnis unserer Recherche - offenbar nicht zum öffentlichen Verkehr. So wird in politischen Diskussionen über Einführung von Fussgängerzonen nur über verkehrsfreie Strassen debattiert. Sofern jemand nicht offensichtlich als Tourist eingekleidet ist, gilt das Herumschlendern bei den Einheimischen nicht als schicklich, sondern als untrügliches Zeichen von Unterbeschäftigung, Arbeitslosigkeit oder inaktivem Rentnerdasein. Die Schrittgeschwindigkeit der Zürcher Einwohnerschaft liegt - wie wir ohne Schwierigkeiten nachmessen konnten - deutlich über dem Durchschnitt aller Mitgliedstaaten der UNO.

Eindeutig grosse Popularität geniessen in Zürich die blau-weissen Trams. Die Zürcher Tram sind zuverlässig, vergleichsweise sauber und relativ bequem. Störend für fünf der sechs Experten ist allerdings die Tatsache, dass ohne gültigen Fahrschein als Schwarzfahrer beschimpft werden. Unser Vorschlag besteht darin, diese Personen als Weissfahrer zu bezeichnen (da das häufigste Argument solcher Personen, wenn sie ohne Fahrkarte erwischt werden, weiss nicht lautet).

Um die Mobilitätssucht vieler Zürcher besser zu verstehen, haben wir einige Tramnomaden (Gruppen von Personen, die gerne Tram fahren) begleitet. Die Tramnomaden, neben vielen älteren Menschen auch junge SchülerInnen, sind friedfertige Menschen, welche offensichtlich einem Schweigegebot unterliegen. Zürcher Trams sind daher auch für Mönche mit Schweigegelübde das geeignete Transportmittel. Was den Trams als rollende Stube durch die Stadt Zürich noch fehlt, sind genügend Kleiderhaken, Gratispantoffel und Fenstervorhänge. Ansonsten kann das Zürcher Tram durchaus als Exportartikel auch für weniger überentwickelte Länder empfohlen werden.


Steinfelsareal - vom Seifenschaum zum schaumigen Bier

Ein typisches Merkmal überentwickelter Städte ist der Wandel von einer industriellen Produktion zur Freizeitproduktion im Industrielook. Ein Symbol dieser Entwicklung ist beispielsweise die Wandlung von Karl Marx von einer Führergestalt zur Bekämpfung des Kapitalismus zu einer werbewirksamen Ikone für Bartwuchsmittel.

Unser wichtigster Gewährsmann und Informant in Zürich, Taxifahrer Walter, empfahl uns - nach Austausch von drei, bei Einheimischen so beliebten handgrossen Giacometti-Porträts.- das Steinfelsareal als exemplarisches Beispiel. Und tatsächlich fand sich hier ein schönes Beispiel post-moderner funktionaler Umwandlung, wie Expertin Sha'at sofort bemerkte: Wurden früher Seifenpackungen am Fliessband produziert, herrscht heute Fröhlichkeit im Akkordsystem. Wo früher Werkmeister den Produktionsprozess überwachten, eilen heute Kellner und Kellnerinnen von Tisch zu Tisch, um vitaminreiche Salate und kalorienfreie Mineralwasser zu servieren.

Historiker Thepi gelang es in der Nähe des Escher-Wyss-Platzes ehemalige Arbeiter der Seifenfabrik zu interviewen. Er fand sie in einem noch nicht post-modern verseuchten Wirtshaus am Stammtisch (Stammtisch, weil hier noch traditionelle männliche Stammesrituale aus der industriellen Frühzeit - wie Saufen, Fluchen, Witze reissen und harmlos über Obere schimpfen - gepflegt werden). Die ehemaligen Arbeiter der Steinfelsfabrik waren umgänglich und erzählten freimütig von früher, als Gewerkschaften noch den Slogan "Alle Arbeiter sind Fremdarbeiter" skandierten. Damals waren die meisten der Seifenarbeiter ausländische Gastarbeiter. Später wurden sie nur noch als Fremdarbeiter bezeichnet (unabhängig ob sie sich in Zürich heimisch fühlten oder nicht). Die ehemaligen Arbeiter erzählten, wie sie früher regelmässig ein Seifenpaket in das Fliessband warfen, wodurch alles stehenblieb (und der Werkmeister seine unersetzlichen Reparaturfähigkeiten beweisen konnte). Heute seien alle Arbeitsplätze wegrationalisiert und das ganze Quartier von Designern bedroht.

Während Historiker Thepi eine endgültig verlorene Vergangenheit lebendig werden liess, schlichen sich die anderen fünf Experten - als Berufsjugendliche getarnt - in eine Zürcher Discothek in der Nähe des Steinfelsareals. Dort erfuhren sie allerdings wenig, und ausser Kopfschmerzen war der Informationsgewinn gleich Null. Erst der Besuch anderer Freizeitclubs erbrachte eine klare Bestätigung dessen, was Experte Xomi als Professionalisierung der Freizeit zu bezeichnen pflegt: In Zürich ist die Freizeit ebenso gut organisiert und ebenso stressreich gestaltet wie die Arbeit. Freizeit ist die Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln, und die Expertengruppe traf im Laufe ihrer Recherche auf eine Reihe organisierter Geniesser und heftiger Freizeitkarrieristen. Extrem ist das Beispiel von Karl X (35-jährig, ledig), der sich voll auf seine Freizeitkarriere als Vernissagebesucher und Abschlepper konzentriert (und dabei pro Woche auf fünfzig Stunden durchdachter Spontaneität kommt). Als wahrer Kulturschock erwies sich für uns Experten der Besuch eines Fitness-Centers: Freiwillig unterwerfen sich erwachsene Männer und Frauen einem brutalen Regime und lassen sich von Apparaten plagen, die wir aus mittelalterlichen Folterkeller zu kennen glaubten. Wir empfehlen der UNO abzuklären, inwiefern Zürcher Fitness-Center nicht gegen die internationalen Folterkonvention verstossen. An die Stelle einer Trimmung junger Männer und Frauen auf fragwürdige, weil unerreichbare Schönheitsideale wäre es klüger, eine kulturelle Umwertung von Schönheit auf das menschlich Normale anzustreben.


Tyrannei der Uhren?

Die Stadt Zürich gilt als demokratische Stadt. Faktisch handelt es sich bei der Stadt Zürich - so wurde uns rasch klar - um eine verdeckte Tyrannei der Zeitmesser. Nicht nur soll Zürich - so unser Gewährsmann, Taxifahrer Walter - eines der grössten Zifferblätter Europas aufweisen, sondern das unbremsbare Vorrücken der Zeit wird den Eingeborenen an allen öffentlichen Orten durch auffällig plazierte Uhren vordemonstriert. Zudem besitzt jeder Zürcher und jede Zürcherin einen privaten Zeitmesser, der sie ständig begleitet und mahnt. Die Zürcher - so Expertin Sha'at - haben die schönsten Zeitmesser, dafür keine Zeit. Tatsächlich fand es unsere Expertengruppe unmöglich, die geplanten Intensivgespräch mit Eingeborenen durchzuführen. Alle angefragten Zürcher lehnten ein Interview ab, obwohl wir ihnen versicherten, das Gespräch würde keineswegs länger als vier Stunden dauern. Selbst pensionierte Zürcher stehen unter enormen Zeitdruck. Typisch war die Reaktion von Rentner Bruno, der geistesgegenwärtig einen vollen Terminkalender zückte und uns in zwei Stunden ausführlich bewies, dass er für die nächsten Monate ausgebucht sei.

Auch Pünktlichkeit wird in Zürich hoch gehalten, obwohl wir überall Klagen hörten, dass früher alles pünktlicher gewesen sei. Eine Gruppe von Eingeborenen regte sich heftig auf, als ein Tram drei Minuten zu spät ankam. Experte Lino erklärte, dass in seinem Heimatland sich kein Mensch selbst bei einer Verspätung von drei Tagen richtig aufzuregen vermöge. Sein Einwurf kam schlecht an: Man sei schliesslich in Zürich nicht in einem Entwicklungsland, sondern in einer pünktlichen Stadt, in der Zeit mehr als nur Geld sei. Der Versuch von Experte Xomi die Zeittoleranz der Einheimischen durch eine Strategie der gezielten Unpünktlichkeit zu testen, erwies sich denn als gefährliches Unterfangen (welches ihm den Ruf eines unzuverlässigen Fremden eintrug).

Expertin Jaani behauptete deshalb, dass die Zürcher pünktlichkeitshysterisch seien. Die anderen fünf Experten vermochten dieses harte Urteil nicht zu teilen. Experte Thepi vertrat die Meinung, Schuld seien nicht die Zürcher, sondern die vielen Uhren, und eine Abschaffung der Uhren würde das Problem sofort lösen. Diese Meinung löste unter uns heftige Streitigkeiten aus. Expertin Mbema schlug deshalb vor, den Expertenstreit durch ein empirisches Experiment zu entscheiden.

Gesagt, getan: Mit Hilfe eines gezielten elektromagnetischen Impulses wurden alle Uhren in der Stadt Zürich auf einen Schlag lahmgelegt. Das Resultat war zuerst eine Schimpftiraden auf die Unzuverlässigkeit moderner Uhren, rasch legte sich jedoch ein riesiges Chaos auf die Stadt: Verliebte warteten zur falschen Zeit (wodurch die Heiratsziffern monatelang in den Keller sanken); Läden schlossen, wenn es den Verkäuferinnen behagte; es kam zu geplatzten Unternehmensfusionen und die Börsenkurse sanken rapide. Im Hardturmstadium entstand eine riesige Rauferei, als sich die beiden Fussballmannschaften über den Schlusspfiff in die Haare gerieten.

Das Zeitexperiment von HOPE musste schon nach wenigen Stunden abgebrochen werden. Glücklicherweise für uns Experten wurde die Schuld an der Zeitkatastrophe entweder einer linken Gewitterfront (NZZ) oder von Akte X stimulierten Aliens (Tages-Anzeiger) zugeschoben. Es wurde klar, dass eine vollständige Befreiung von der Tyrannei der Zeit in einer komplexen, überentwickelten Stadt ein Ding der Unmöglichkeit darstellt. Selbst eine verstärkte Individualisierung der Uhrzeiten dürfte kaum auf Zustimmung der Mehrheit der Einheimischen stossen, zumindest nicht ohne langwierige Entwicklungsvorarbeiten.


Individualisierung als Massenphänomen

Bei der Vorbereitung unserer Reise nach Zürich wurde uns eine Reihe soziologischer Fachbeiträge zur Individualisierung und Vereinzelung in post-modernen Gesellschaften in die Mappe gedrückt. Alle Autoren zu diesem Thema sind kollektiv der Ansicht, überentwickelte Städte litten an einer zunehmenden Individualisierung und Vereinzelung der Eingeborenen. Einige Autoren sind der Ansicht, der aktuelle Individualismus sei Ausdruck von Befreiung und Autonomie moderner Menschen. Andere AutorInnen beurteilen Individualismus als Stilisierung moderner Ängste.

Historiker Thepi machte darauf aufmerksam, dass Zürich schon seit Jahrzehnten die heimliche Hauptstadt der Psychoanalyse und Psychotherapie sei. Zürcher kennen wenig Streiks, dafür viele Therapien. Gegenwärtig findet man auf dem Platz Zürich eine enorme Vielfalt psychologischer und psychoanalytischer Institute, welche sich mit Inbrunst gegenseitig abwerten.

Das deutlichste Zeichen städtischer Vereinzelung - so die Meinung von Fachleuten - ist die zunehmende Zahl sogenannter Singles. Eine genaue Durchsicht der Literatur führte uns Experten jedoch zur Einsicht, dass die Analyse städtischer Singles am Yeti-Syndrom leidet: Alle wissen, dass es existiert, jeder beschreibt es völlig anders und keiner hat es gesehen.

Um die Sache ein und für allemal zu entscheiden, beschlossen Experte Xomi und Expertin Jaani, systematisch nach Zürcher Singles zu suchen.

Unser Gewährsmann und zuverlässiger Informant, Taxifahrer Walter, zeigte uns eine ganze Reihe von Bars, Restaurants und Untergrundkeller, wo sich gerüchteweise Singles herumtreiben. Die Zürcher Singles sind allerdings ein scheues Völkchen, denn es gelang uns vorerst nicht, einen einzelnen Single einzufangen und zu untersuchen. Überall wo wir auftauchten, trafen wir Singlefrauen und Singlemänner nur paarweise oder gar in Gruppen auf.

Obwohl sehr hilfsbereit, konnte uns auch das statistische Amt der Stadt Zürich nicht weiterhelfen: Die meisten Adressen von Alleinlebenden erwiesen sich als Paarhaushalte, die sich steuerlichen oder anderen legitimen Gründen als Einpersonenhaushalte deklarierten. Die Personen, die tatsächlich allein lebten (geschiedene oder verwitwete Personen) weigerten sich umgekehrt beharrlich, sich als Singles einzustufen. Typisch war die Reaktion von Urs W. (45-jährig, ledig), der sich gegenüber Experte Xomi als eingefleischter Single zu erkennen gab, jedoch Expertin Jaani - kaum hatte er sie bemerkt - einen Heiratsantrag machte.

Experte Thepi schlug deshalb vor, die Suche nach einzelnen Singles aufzugeben, und sich statt dessen auf die Untersuchung des Singletums als Massenphänomen zu konzentrieren. Tatsächlich erwiesen sich alle Singleclubs, die wir in der Stadt aufsuchten, immer voll belegt, und auch das Interview mit Eddy O., Präsident des ZIVG (Zürcher Interessenverband Vereinigter Singles) zeigte, dass sich hier eine kraftvolle Bewegung abzeichnet. Nach Ansicht von Eddy O. ist es unbedingt erforderlich, dass den Singles endgültig ein eigener Zivilstand eingeräumt werde, welcher im Rahmen einer amtlichen Zeremonie (Single-Hochzeit und Unterschrift unter Singularitätsvertrag) seinen Ausdruck finden sollte. Auch sonst sollte die Stellung der Singles in der Stadt Zürich besser geschützt werden, etwa durch einen speziellen Versicherungsschutz gegenüber dem Heiratsrisiko, einer besseren Vertretung von Ein-Mann-Orchester im Opernhaus usw.


Leere Kirchen und geordnete Friedhöfe

In jeder Gesellschaft, sei noch so überentwickelt, sind Religion und Glaube zentrale Grundpfeiler menschlichen Lebens. So formulierte es Experte Thepi zu Beginn unserer Mission. Leider wurden wir auf der Suche nach Religion und Glaube in der Stadt Zürich zuerst massiv getäuscht. Zwar befinden sich in der Stadt Zürich eine viele Kirchen, aber diese Kirchen sind normalerweise völlig menschenleer (sofern sich nicht japanische Fototouristen und zwangsgeführte Schulklassen dorthin verirren). Einzig das Fraumünster erwies sich als belebt, aber was die Leute suchten, war nicht Gott und Lebensglaube, sondern die Chagall-Fenster. Angesichts leerer Kirchen ist es kein Wunder, dass sich zunehmend mehr Zürcher Pfarrer vollamtlich dem Schreiben von Kriminalromanen widmen.

Auch der Zustand der Zürcher Friedhöfe erwies sich für uns Experten als Kulturschock: Die Friedhöfe der Stadt sind nicht - wie sonst überall üblich - Orte der Begegnung und offener Trauer, sondern herausgeputzte Plätze verdrängter Gefühle. Die Gräber und Grabsteine sind exakt ausgerichtet und geordnet. Es hat den Anschein, als ob die Zürcher demonstrieren würden, dass im Tod alle gleich seien. Damit bleibt für die Grabsitten von Menschen aus anderen Kulturen kein Platz.

Die Ansicht von Expertin Sha'at, die Zürcher Bevölkerung sei ungläubig oder atheistisch gesinnt, erwies sich allerdings nach genauer Analyse resp. nach Befragung unseres eingeborenen Gewährsmann (Taxifahrer Walter) als voreilig. Die Stadtbevölkerung ist in Tat und Wahrheit in zwei unversönliche Hauptkonfessionen gespalten; den Marktgläubigen einerseits und den Staatsgläubigen andererseits. Die Marktgläubigen versammeln sich regelmässig vor den Banken, um auf Bildschirmen die neuesten Börsenkursen - gemäss Experte Lino die Fieberkurven von Urgott UBS - zu verfolgen. Die Staatsgläubigen treffen sich jährlich am ersten Mai mit Inbrunst am Helvetiaplatz, um sich anschliessend mit einem Wald von Parolen und Transparenten durch die Innenstadt zu wälzen.

Neben diesen zwei Konfessionen breitet sich in der Stadt Zürich auch eine Vielfalt esoterischer Glaubenssätze aus, viele aus dem Osten importiert. Während im 19. Jahrhundert die Europäer im Rahmen des Imperialismus Christentum, Steuern und Marktelemente nach Osten exportierten, findet heute eine Durchdringung der überentwickelten europäischen Städte mit östlichen Religionsformen statt. So traf Expertin Jaani in der Nähe des Lindenhofs auf Freimaurer. Im Alltag brave Gewerbetreibende widmen sie sich nächtlich geheimen Riten des Isis-Kultes. Manche Zürcher sind extrem abergläubisch. So sind die Zeitungen voller computerunterstützter astrologischer Ratschläge. Auch Tarot-Karten und Börsenratschläge finden gegenwärtig einen reissenden Absatz.

Insgesamt - so unsere Folgerung - basteln sich die Zürcher und Zürcherinnen zunehmend mehr ihre private Religiosität. Dabei werden traditionelle und post-moderne Werthaltungen sowie sinnige und sinnlose Glaubenssätze in bunter Vielfalt zusammengewürfelt. Ob diese Patch-Work-Religiosität eine positive oder negative Entwicklung sei, war in unserer Expertengruppe umstritten. Experte Xomi betrachtet diese religiöse Basteleien als dekadente Erscheinung, und Historiker Thepi erinnert dies an den Untergang des römischen Reiches. Expertin Sha'at hingegen findet es positiv, dass Staatskirchen ihr religiöses Monopol verloren hätten, und Expertin Jaani sieht vor allem im Verschwinden patriarchaler Gottesvorstellungen eine Chance für ein zweites Matriarchat.


Limmat-Athen

Beim Empfang unserer Expertengruppe im Stadthaus Zürich, erwähnte der Stadtpräsident, Zürich sei seit altersher auch als Limmat-Athen bekannt. Als Historiker Thepi nachfragte, ob dies wegen der Luftverschmutzung sei, wurde er freundlich, aber bestimmt darauf verwiesen, dass der Vergleich mit Athen mit dem hohen Bildungsgrad der Zürcher Bevölkerung zusammenhänge. Tatsächlich ist die Zürcher Bevölkerung im allgemeinen gut gebildet, gesittet und intelligent, auch wenn das bei politischen Entscheidungen der letzten Jahre nicht immer deutlich wurde. Die meisten Zürcher verstehen neben ihrem urtümlichen Dialekt (der anderen Schweizern oft schwer auf die Nerven geht) auch die Sprachen Goethes und Gates (Microsoft-Englisch).

Zürich ist auch eine Stadt des Lernens, und morgens sind die Trams zum Bersten voller SchülerInnen, alle mit gutgefüllten Rucksäcken bewaffet. Auch die Universitäten sind zum Bersten voller Studierenden. Einige Hochschulprofessoren beklagen den Fleiss heutiger Studierender: Früher - so ein älterer Professor für literarische Dekonstruktion - hätten die Studierenden tagelang demonstriert, weitab von der Universität. Heute würden sie fleissig studieren und ihn permanent mit intelligenten Abschlussarbeiten belästigen.

Uns Experten fiel rasch auf, dass die Stadt Zürich und die Zürcher Universität getrennte Welten mit wenig Berührungspunkten bilden. Weder intellektuell noch sozialpolitisch würden sich Stadtpolitik und Universitäten wechselseitig befruchten, möglicherweise weil die Mehrheit der Uniprofessorenschaft steuergünstig ausserhalb der Stadt wohne.

Zürich wurde früher - erfuhr Historiker Thepi nach Stöbern im Zürcher Sozialarchiv - durch wiederkehrende radikale Jugendbewegungen in seiner Ruhe gestört. Seit Einzug der Post-Moderne ist die Jugendbewegung friedlich eingeschlafen. Anstelle einer bewegten Jugend fände man - so ein Zürcher Berufsjugendlicher - heute lärmige Street-Paraden (wo sich Enkelkinder und Grosseltern gemeinsam die Haare bunt färbten). Auch unser zuverlässiger Informant, Taxifahrer Walter, findet die heutige Jugend stinknormal. Tatsächlich traf Experte Lino mehr radikale RentnerInnen als bewegte Jugendliche an. Radikale Gedanken sind aus der Zürcher Politik nahezu verschwunden, und intelligente aktive junge Leute sind heute primär in Technoparks erfinderisch tätig.

Trotz heftiger Gegenbemühungen - der Strategie des sogenannten New Public Managements - hat sich eine Zürcher Kulturszene bewahren können. Freie Theatergruppen, originelle KünstlerInnen (sowie einige Lebenskünstler) bilden ein kulturelles Netz ausserhalb der offiziellen Kanäle, oft unterdrückt und nur selten anerkannt. Der Widerstand gegenüber sozialen Innovationen ist jedesmal heftig. Expertin Jaani regte sich heftig auf, als sie herausfand, dass Frauen in Zürich offiziell zu den Randgruppen gezählt werden. Zürich - so das Fazit unserer Expertengruppe - ist eine geteilte Stadt, geteilt zwischen einer gutbürgerlichen Mehrheit, welche Politik, Wirtschaft und Verwaltung stellen, und einer disorganisierten kulturellen Szene, welche momentan nur noch schwachen Widerstand leiste. Soll Zürich weiterhin den Ruf eines Limmat-Athens geniessen, müssten - so unsere Expertenempfehlung - vermehrt auch schräge Vögel geschützt werden.

PS: Wie aus vertraulicher Quelle (Taxifahrer Walter) zu erfahren war, hat sich die Expertengruppe HOPE im Streit aufgelöst: Zwei Mitglieder der Expertengruppe liefen zu den Eingeborenen über, mit der Begründung, lieber überentwickelt in Zürich leben als weiterhin am internationalen Expertentum teilzunehmen.

Publiziert im Tages-Anzeiger 14.Juli -25.August 1999.

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