F.Höpflinger
Märchen unserer Nachfahren
Prozessakte "Hans im Glück"
Vor langer Zeit, als noch keine A-Werke standen und das Ozonloch noch ungeboren war, wurde ein junger Bauernsohn - Hans im Glück genannt - vor Gericht des Betrugs angeklagt. Er habe - so wurde ihm vorgeworfen - durch geschicktes Lügen und Betrügen einen alten, wertlosen Schleifstein gegen eine fette Gans, diese wiederum gegen eine Sau, eine Kuh, ein Pferd und schlussendlich gegen einen kopfgrossen Goldklumpen ausgetauscht. Der Ankläger warf Hans vor, die Besitzer der Gans, der Sau, der Kuh, des Pferdes und des Goldklumpens schamlos betrogen zu haben. So habe er den Besitzer der Sau dadurch zum Tausch mit der Gans bewogen, dass er ihm vorgelogen habe, Schweinefleisch werde ab sofort nicht mehr subventioniert. Auch die Besitzer des Goldklumpens - die beiden Gebrüder Grimm - habe er ohne Blinzeln übers Ohr gehauen. Er habe ihnen sein altes Pferd dadurch aufgeschwatzt, dass er vorgeflunkert habe, der Goldpreis sei durch Verkäufe von Schweizer Banken ins Bodenlose gefallen, obwohl gerade das Gegenteil der Fall war. Auf jeden Fall müsse man bei Hans ein Exempel statuieren, um dem Spekulantentum endlich Einhalt zu gebieten.
Der Verteidiger von Hans wies in seinem Plädoyer darauf hin, dass ein solcher Handel - wie ihn Hans getätigt habe - gang und gäbe sei. Man solle sich nur bei den grossen Herren oder den Politikern umsehen: überall werde Dummköpfen das Fell über die Ohren gezogen. Wer nicht lernen will, sei selber schuld. Wer alles glaube, was man ihm vorschwatze oder was in der Zeitung stände, sei dumm und töricht. Schliesslich gelte das Prinzip der freien Wirtschaft, und da könne jeder handeln wie er wolle. Wenn ein kluger und unternehmenstüchtiger Kopf wie Hans im Glück reich werde, sei dies für das ganze Land ein Vorbild.
Auch das Gericht war dieser Meinung (umso mehr als Hans den Richtern einen Teil des Goldklumpen schenkte). So wurde Hans freigesprochen, wogegen die Gebrüder Grimm neben dem Schaden noch den Spott zu tragen hatten.
PS.: Wie zu erfahren ist, haben sich die Gebrüder Grimm dadurch gerächt, dass sie Hans im Glück in einer ihrer Lügengeschichten als reinen Tor und Dummkopf darstellten, ohne dass er sich je wieder rehabilitieren konnte.
Der Zauberspiegel
Er lag in einer Estrichecke, unbenützt und staubbedeckt; ein hoher, uralter Spiegel, halbblind und seit Jahrzehnten vergessen. Ein kleines Mädchen, das neugierig herumstöberte, entdeckte den alten Spiegel. Ein letztes helles Blitzen hatte es angelockt. Es schleppte den Spiegel aus seiner Ecke und wischte mit seinem Aermel den Staub weg. Dann setzte es sich auf den Boden und starrte in den Spiegel, doch der Spiegel starrte nicht zurück. Er blieb stumm und leer. "Er kennt mich noch nicht", dachte das kleine Mädchen, als es sich im Spiegel nicht wiederfand. "Oder vielleicht schläft er", überlegte es. Es schüttelte den Spiegel, um ihn zu wecken.
Darauf durchlief ein Zittern den alten Spiegel, und das kleine Mädchen blickte unvermittelt in einen grossen Saal, der mit farbenfrohen Teppichen geschmückt war. Inmitten des Saals stand ein löwengeschmückter Steinthron. Darauf sass ein dicker König, der sich mit ironischer Miene die Beschwerden seiner Untertanen anhörte. Erstaunt packte das Mädchen den alten Spiegel. Der Saal, der Thron und der dicke König verschwanden. An ihre Stelle sah das Mädchen ein weites Schlachtfeld, von dem ein hagerer König auf einem schwarzen Pferd wegritt, um neue Soldaten zu rekrutieren (denn seine bisherigen Soldaten waren alle tot).
Erschrocken stiess das Mädchen gegen den Spiegel, und das Schlachtfeld verwandelte sich in einen prallgefüllten Holztisch, an dem ein bleicher, blonder König mit seinen Freunden zechte. Roter Wein floss in Strömen, und der König lachte betrunken aus dem Spiegel. Angewidert griff das Mädchen in den Spiegel. Erneut erschien ein neues Bild, auch diesmal ein König, schweratmend in einem blauen Himmelbett liegend.
So oft das Mädchen den Spiegel berührte, immer kamen Könige und nur Könige ins Bild; einige gross und erhaben, die meisten jedoch herrschsüchtig und kleinlich, sich ereifernd und unbeherrscht.
Eine geraume Weile machte das kleine Mädchen sich einen Spass daran, einen König gegen den anderen auszutauschen. Aber dann verlor es die Geduld, und es schüttelte den Spiegel mit voller Kraft. Da klirrte es leise, und ein Sprung durchbrach den alten Spiegel von oben bis unten. Der Sprung vergrösserte sich zu einem grossen Spalt, und aus dem Spalt purzelte ein König nach dem anderen, alle nackt und bloss, ohne Krone und Juwelen. Mit offenem Mund sah das Mädchen, wie sich der Estrich mit Königen füllte, bis kaum mehr Platz vorhanden war. Keiner der Könige beachtete das kleine Mädchen. Alle hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich gegenseitig aufzuspielen und zu beschimpfen. Bald verzog sich einer der Könige, mit der Absicht, sich raschmöglichst ein neues Reich zu erobern. Die anderen Könige folgten ihm eilends, jeder bestrebt, sich erneut ein ungestörtes kleines Königreich zu sichern. Im Nu war der Estrich leergefegt. Zurück blieben ein verblüfftes Mädchen und ein in Tausend Scherben zersprungener Spiegel.
Seit diesem Tag wimmelt es in unserer Gegend von ungekrönten kleinen Tyrannen, die eifersüchtig darauf achten, dass ihnen niemand ihr Herrschaftsgebiet streitig macht; sei es im Wohnblock, sei es im Betrieb und im Büro. Wer acht gibt, wird auch in seiner Nachbarschaft oder an seinem Arbeitsort solche ungekrönte kleine Herrscher vorfinden. Man erkennt sie leicht daran, dass sie alles spiegelverkehrt betrachten.
Die drei Söhne
Es war einmal, zur Zeit der schon fast vergessenen Autopartei, ein reicher Mann. Der hatte drei Söhne. Von denen galten die zwei Aelteren als weltgewandt und gewitzt. Nur der jüngste Sohn schien nicht ganz recht im Kopf, und er wurde allgemein als hoffnungsloser "Grüner" betrachtet. Als der reiche Mann sah, dass sich sein Lebenskrug allmählich leerte, rief er seine drei Söhne zu sich. Er sagte ihnen: "Meine Zeit ist bald abgelaufen, und es wird Zeit, mein Erbe zu ordnen. Ich habe folgendes beschlossen: Wem es gelingt, mir das schönste Automobil zu schenken, der soll meinen ganzen Reichtum erben."
Die beiden älteren Söhne lachten: "Wir werden Dir das schönste Automobil bringen, das es je gegeben hat; für uns kein Problem." Zum jüngsten Sohn spotteten sie: "Bleib schön zu Hause. Du brauchst Dir keine Hoffnungen zu machen. Wir werden das Ding schon schaukeln."
So gingen die beiden älteren Söhne in die weite Welt, ihr Glück zu suchen. Der jüngste Sohn blieb im Dorf und dachte traurig: Vielleicht kann ich hier mein Glück finden.
Der älteste Sohn ging zu einem weltweit tätigen Unternehmen und wurde Konstrukteur: Tag und Nacht baute er neue Automobile, eines grösser und schneller als das andere. Schon bald hatte er sein Wunschauto vollendet: Es glänzte silbergrau, besass sechs Türen, breite Fenster und einen leise summenden Motor mit der Kraft von zweihundert Pferden. Es war ein Gefährt, wie es schöner kein Präsident und kein Manager besass. Der älteste Sohn stieg in sein Wunderauto und fuhr zu seinem Vaterhaus. Unterwegs erregte er viel Erstaunen und Bewunderung, aber auch Neid und Habsucht. Wie er vor einer Discotheke mit seinem silbergrauen Auto prahlte, beschlossen einige Räuber, ihm das Auto zu stehlen. Einer der Räuber schlenderte zu ihm hin und fragte: "Kannst Du mir den Motor zeigen. Es ist fast nicht zu glauben, dass er so stark wie zweihundert Pferde sein kann." Der älteste Sohn öffnete voller Stolz die Motorhaube. Da schlugen ihn die Räuber von hinten auf den Kopf und verschwanden mit dem silbergrauen Wunder auf Nimmerwiedersehen.
Als der zweitälteste Sohn dies vernahm, lachte er schadenfroh und dachte sich: "So dumm will ich nicht sein, mir mein Auto wegstehlen zu lassen."
Er ging zum selben Autokonzern und wurde bald ein gewiefter und geschätzter Autohändler. Er verkaufte den Leuten alte Autos als neu und brachte die Leute dazu, ihren neu gekauften Wagen rasch gegen das allerneueste Modell umzutauschen. Er war so schlau und gerissen, dass er bald viel Geld besass. Von seinem Geld kaufte er sich ein Automobil, dessen Motor die Kraft von vierhundert Pferden besass und das fast so schnell wie der Blitz war. Es fuhr so rasch durch die Dörfer, dass die Leute von der Arbeit erst aufblickten, wenn es ihr Dorf schon wieder verlassen hatte. Wie der zweitälteste Sohn seinem Vaterhaus entgegenraste, kam er in ein Dorf, wo ein Heuwagen umgestürzt auf der Strasse lag. Es kam, wie es kommen musste: sein Automobil liess sich nicht bremsen, und der zweitälteste Sohn brach sich beim Zusammenstoss fast alle Knochen. Sein schneller Wagen war nur noch Schrott, so dass sich selbst abgebrühte Alteisenhändler geniert abkehrten.
Der jüngste Sohn war unterdessen in seinem Dorf Chauffeur beim lokalen Krankenhaus geworden. Mit seinem Krankenwagen hatte er Verunfallte und Kranke abzuholen. Dieser Wagen war nicht silbergrau noch blitzesschnell, sondern alt und rostig. Er hatte nicht vierhundert, noch zweihundert Pferde, sondern nur zwei altersgraue Esel unter seiner Motorhaube. Er hatte schon seine zwei älteren Brüder ins Krankenhaus gefahren, als er eines Tages vernahm, dass sein Vater schwerkrank geworden war. So rasch es ging, fuhr er zu seinem Vaterhaus. Als er ankam, war der Tod seinem Vater schon sehr nahe gekommen. Er scheuchte den Tod aus dem Haus und fuhr seinen Vater behutsam in das Krankenhaus, wo die Aerzte ihn bald wieder gesundpflegten.
Wie alle drei Söhne sich um das Krankenbett des Vaters versammelten, rief er: "Mein jüngster Sohn, Du hast mir das schönste Automobil gezeigt. Du sollst meinen ganzen Reichtum erben."
So wurde der "Dummling" ein reicher Mann, während sich seine hochnäsigen Brüder weiter mit dem Bau und Verkauf von nutzlosen Automobilen abplagen mussten, bis zu dem Tag, da kein Benzin mehr zu bekommen war.
Die Erfindung
In einer Zeit, als alles machbar schien, baute ein genialer Erfinder in einer Stadt nördlich der Alpen eine riesige Maschine. Sie sah aus wie ein riesenhaft grosser Regenwurm, und sie war so enorm, dass Menschen daneben wie winzige Ameisen wirkten. Die ganze Stadt war stolz auf ihren Erfinder. Der Bürgermeister der Stadt hielt eine lange Rede, und Schulkinder sangen laute Techno-Lieder.
Wie der Erfinder auf einen roten Knopf drückte, begann sich der riesige Metallwurm zu regen. Vorne schluckte er Sand und Erde, und aus seinem Hinterleib floss eine fixfertige Betonstrasse, breiter als viele Flüsse. So baute die Maschine Strasse um Strasse, zur grossen Freude aller Autokraten.
Als genug Strassen gebaut waren, befahl der Bürgermeister dem Erfinder, seine Maschine abzuschalten. Doch wie sich der Erfinder der Maschine näherte, wurde er einfach verschluckt. Ein winziger Betonzwerg war alles, was von ihm zurückblieb.
Und die Maschine frass sich weiter, quer durch die schöne Stadt. Sie verschlang Häuser und Kirchen, ja selbst das alte Rathaus und eine neuerbaute Bank blieben nicht verschont. Bald war die Stadt durch ein breites, graues Betonband entzweigeschnitten. Immer wieder versuchte man, die Maschine zu stoppen, ohne Erfolg. Nichts half, nicht die Seufzer und Tränen der Leute, deren Häuser verschwanden, noch das Geschrei der Kinder, deren Spielwiesen zubetoniert wurden. Immer weiter frass sich der Riesenwurm: durch grüne Wiesen, stille Tümpel und helle Wälder. Ein breiter Betongürtel legte sich über das Land. Bauern wurden von ihren Feldern getrennt und Frösche von ihrem Weiher, erbarmungslos.
Die Hoffnung, dass die unheimliche Erfindung durch die hohen Berge aufgehalten würde, trog. Der Metallwurm überwand Flüsse und Schluchten. Er durchbohrte ganze Berge und liess überall sein einförmiges Band zurück. Noch heute zeugen riesige Löcher in den Bergen vom Durchgang des Ungeheuers.
Auch im Süden der Alpen trieb der Riesenwurm sein Unwesen. Täler wuden erbärmlich zerschnitten, Kastanienhaine niedergewalzt und kleine Dörfer rettungslos eingekreist. Selbst die klügsten und tapfersten Frauen vermochten nichts gegen das Ungeheuer. Das Unheil nahm erst an einem tiefen See ein Ende: schluckend und rumpelnd verschwand der Maschinenwurm im grünen Wasser. Uebrig blieb etwas grauer Schaum. Die Leute behaupten, dass man den Riesenwurm an sonnigen Tagen noch heute rumpeln höre, und dass die Maschine eines Tages das andere Ufer erreiche, um weiter ihr Unwesen zu treiben.
Der Händler Saladin
Im unteren Rheintal, nicht weit vom Bodensee, lebte einmal ein Händler namens Saladin mit seiner Frau in einer engen Holzhütte. Er verdiente sich sein Brot damit, dass er die Abfallberge der untergegangenen Zivilisation nach Plastik, Glas und Metallen durchsuchte, um seine Funde in den Dörfern der Gegend zu verkaufen. Wenn er nichts oder nur wenig fand, was nicht selten geschah, war der Hunger in ihrer Hütte ihr einziger Gast. Wohl hatte er einen reichen Bruder, aber dieser war so geizig, dass er ihm nur die Rinde an den Bäumen und das Wasser im Fluss gönnte.
Als Saladin wieder einmal nichts gefunden hatte und traurig heimwärts zog, sah er auf seinem Weg eine schwarze Wildkatze, die einen verzweifelt zappelnden Zwerg in ihren Krallen hielt, bereit, ihn zu verzehren. Rasch trat Saladin dazwischen und entriss der Katze den Zwerg, obwohl sie gar fürchterlich fauchte und ihm den Rücken übel zerkratzte. Der Zwerg dankte Saladin für seine Rettung und versprach, ihn reich zu belohnen. Leise flüsterte er ihm ein Geheimnis ins Ohr und warnte ihn gleichzeitig, anderen Leuten davon zu erzählen.
Saladin ging, wie ihm der Zwerg geraten, in eine nahgelegene Schlucht, bis er vor einem steilen Felsen stand. Wie ihm geheissen, rief er dreimal das geheime Zauberwort "Bunker, öffne dich", und im Fels öffnete sich eine schmale Türe. Er trat in einen langen Gang, der von dünnen Glühwürmchen blass erleuchtet wurde. Wie er dem Gang entlang lief, kam ihm eine weisse Natter entgegen, ein goldenes Krönlein auf ihrem Kopf. Erschrocken wollte er zurückweichen, doch die Schlange bat ihn freundlich zischend um etwas Milch. Saladin bewies ihr, dass er selbst fast nichts besass. Wenn sie wolle, könne sie sein letztes Stück Brot essen. "So gehe weiter", züngelte die Natter: "Berühre jedoch niemals den golden leuchtenden Knopf am Ende des Bunkers."
Saladin ging weiter und kam am Ende des Ganges zu einer schweren Eisentüre. Er öffnete sie mühsam. An der Decke begannen riesige Glühwürmer hell zu leuchten, und er sah ein grosses Gewölbe, mit wertvollen Sachen vollgestopft. An der einen Wand standen dunkelgrüne, eiserne Betten, so angelegt, dass immer drei Personen übereinander liegen konnten. In der Mitte des Raumes lag ein breiter, drehbarer Tisch mit vielen Knöpfen, und von allen Seiten führten schwarze Schläuche zu schweren Eisenflaschen. Dahinter lagen silbrig glänzende Messer, Scheren und Nadeln auf einer kleinen Schublade mit Rädern. In einer anderen Ecke lagen Stapel von dicken, warmen Decken und ein Sack voller lockigem Engelhaar. In einem weissen, hohen Schrank entdeckte Saladin durchsichtige Handschuhe aus einem sich seidig anfühlenden, kühlen Plastik. Ganz hinten lag ein schwerer, drohender Kasten mit einem golden aufleuchtenden Knopf. "Röntgenspannung 100 KV" stand in warnend roter Schrift.
Wie ihm die weisse Schlange geraten, liess er den goldenen Knopf unberührt und nahm nur die anderen Schätze in Besitz. Durch den Verkauf all der wertvollen Dinge aus lang vergangener Zeit wurden er und seine Frau rasch wohlhabende Leute, sehr zum Aerger seines missgünstigen Bruders. Wie sich dessen Frau darüber beklagte, dass ihre Schwägerin durchsichtige Handschuhe trage und sie nicht, sann er nach, wie er dem plötzlichen Reichtum seines Bruders Saladin auf die Spur kommen könne.
Eines Tages lud er ihn zu sich ein und schenkte ihm starken Schnaps ein, so dass Saladin bald betrunken umhertorkelte. Alsdann befragte ihn sein geiziger Bruder über das Geheimnis, und der betrunkene Tor erzählte ihm alles.
Kaum hatte der Bruder das Geheimnis erfahren, eilte er zum Felsen, rief dreimal das Zauberwort und als sich die Türe öffnete, stürzte er sich in den Gang. Die weisse Natter beachtete er nicht, ebensowenig ihre Warnung vor dem goldenen Knopf. Erst als er den Bunker betrat, erinnerte er sich an die Worte der Schlange. "Die will ihren besten Schatz wohl für sich allein behalten", dachte er. "Das wäre ja gelacht". Und er stürzte sich gierig auf den golden flimmernden Knopf und drückte ihn.
Zuerst geschah nichts, dann begann es grünlich zu glimmen, und vor sich erblickte er plötzlich die knorrendürre Gestalt des Todes. Vor Schreck hob er die Arme. Gleichzeitig hob auch das schattenhafte Skelett vor ihm die Arme. Da wusste der geizige Bruder, dass er seinem eigenen Tod gegenüberstand, und er sank entseelt zu Boden.
Bruder Martin
Bruder Martin war vormals, zur Zeit der grossen Verschwendung, ein gottesfürchtiger Mann. Er arbeitete fleissig, half seinen Mitmenschen, wo er konnte, und verzichtete zeitlebens auf Aufputschmittel und hormongespritztes Kalbfleisch. Doch wie schon Hiob wurde er ausgewählt, schwere Prüfungen über sich ergehen zu lassen.
Als er alt geworden war und sich auf den Tod freute, zwang man ihn in ein grosses Spital, fern von allen, die er kannte und liebte. Dort wurde alles getan, um ihn am friedlichen Sterben zu hindern: Aerzte bombardierten ihn mit Fragen, untersuchten ihn bis zur Ohnmacht und schleppten ihn dann in einen unmenschlich sauberen Operationssaal. Er wurde auf einen weissen Tisch festgebunden, von kalten Schläuchen umgeben und von einer runden Lampe erbarmungslos hell angeleuchtet. Um ihn herum standen unheimliche, grün gekleidete Gestalten, Mund und Nase durch Tücher abgedeckt, so dass nur lauernde Augen sichtbar waren. In ihren behandschuhten Händen hielten sie spitze Messer und lange Spritzen. Sie öffneten ihm die Brust, nahmen ihm sein Herz heraus, um es durch das fremde, kalte Herz eines Toten zu ersetzen. Danach nähte man ihn wieder zusammen, und es ging ihm von Tag zu Tag schlechter. Schmerzen peinigten ihn, und sein Herz schlug kalt und fremd. Aber man liess ihn nicht sterben. Alle seine Bitten wurden abgelehnt. Nochmals und nochmals wurde er aufgeschlitzt, operiert, zugenäht und mit Medikamenten vollgespritzt, so dass sich ihm die Sinne verwirrten.
Trotz seiner grossen Schmerzen blieb sein Glaube ungebrochen, und er verzieh seinen Peinigern, die ihm keine Ruhe gönnten und die alles daran setzten, den Tod fernzuhalten, dem Wahn folgend, später für sich selber ewiges Leben zu gewinnen.
Obwohl er ohne Bewusstsein lag und im Nirgendwo zwischen Diesseits und Jenseits schwebte, wurde er jahrelang künstlich am Leben erhalten, bis der Tod ungeduldig wurde und ihn doch noch seinen Aerzten entriss.
Der Bilderkasten
In jenen Zeiten, da jedermann einen Bilderkasten besass, aus dem ohne Unterlass bunte Geschichten sprudelten, so lebendig, dass man hätte meinen können, man stehe selbst mitten im Geschehen, lebte ein Mann mit seiner Frau und seinen Kindern friedlich in einem kleinen Haus am Rand einer grossen Stadt. Wie er es von jung an gewohnt war, arbeitete der Mann am Tag hart und guckte abends bis tief in die Nacht in den Bilderkasten, genauso wie es seine Nachbarn taten. Wenn seine Arbeit auch hart und entbehrungsreich war, so unterhielt ihn abends sein Bilderkasten mit all den Possen aus der weiten Welt.
Wie er die Geschichten von wagemutigen Piraten, nervenstarken Detektiven und heissblütigen Frauen unter warmer Südseesonne sah, wurde ihm eines Tages weh ums Herz. Sein eigenes Leben dünkte ihn grau und eintönig. Er blickte wehmütig in den Bilderkasten und wünschte sich sehr den Zugang zur bunten Bilderwelt, und sei es auch nur für eine Woche.
Im selben Augenblick schlug es zwölf, und die Geisterstunde brach an. Sein Wunsch wurde ihm erfüllt. Zu seinem Erstaunen und Entzücken befand er sich mitten im farbenfrohen Geschehen: Er war selbst ein wagemutiger Pirat, der sich auf fernen Inseln Töpfe voller Gold eroberte; ein nervenstarker Detektiv, der mit klugem Scharfsinn und harten Fäusten die schwärzesten Verbrecher verfolgte und der Liebhaber heissblütiger Frauen, die unter hohen Palmen seine Sehnsüchte stillten.
Als genau eine Woche vorüber war, brach der Zauber, und er sass wieder draussen vor seinem Kasten. Die bunte Welt der Abenteuer war erneut im Bilderkasten gefangen und für ihn unerreichbar. Ganz verwirrt stand er von seinem Sessel auf und ging an einem Spiegel vorbei. Da erkannte er erschreckt, dass das Leben an ihm vorbeigerauscht war. Aus dem Spiegel blickte ihm ein verrunzeltes Gesicht mit schneeweissen Haaren entgegen. Er erfuhr, dass seine Frau schon lange mit einem anderen Mann verheiratet war und seine Kinder längst fortgezogen waren. In seiner Nachbarschaft und an seinem Arbeitsort kannte ihn niemand mehr, und so lebte er seine letzten Jahre einsam und verlassen, wehmütig in den Bilderkasten starrend, bis ihn seine Lebensgeister endgültig verliessen.
Die Schachmaschine
In einem ganz kleinen Königreich, tief im Süden, dort wo nach alten Legenden schwarzes Gold aus dem Boden sickerte, lebte einmal ein genialer Ingenieur. Er hatte schon viele Maschinen und Geräte erfunden und konstruiert: Maschinen, die laufen, sprechen oder schreiben konnten. Als Krönung seiner Arbeit erbaute er eine Maschine, die denken konnte: eine Schachmaschine, die alle ihre Züge gründlich überlegte und die deshalb jedes Schachspiel zu gewinnen vermochte.
Als der Ingenieur die Schachmaschine so weit verfeinert hatte, dass selbst er das Spiel immer verlor, schenkte er sie seinem König. Der war hocherfreut, hatte er doch kurz vorher seinen besten Schachgegner aus Eifersucht kurzerhand ins Gefängnis geworfen. Tagelang spielte der König gegen die Schachmaschine. Doch als er jedesmal verlor, schwand seine Begeisterung rasch dahin.
Er liess den Ingenieur zu sich rufen und sagte ihm: "Deine Schachmaschine ist mir verleidet. Ich brauche etwas besseres: Baue mir eine Maschine, mit der man alle Verbrechen aufdecken kann."
Der Ingenieur überlegte lange Zeit und baute seine Schachmaschine um: Neben dem Gehirn erhielt sie hochsensible Ohren und weitblickende Augen, mit denen das Tun und Lassen aller Bürger im ganzen Königreich überwacht werden konnte.
Der König war hocherfreut, als die Maschine einige Bauern erwischte, die in ihrer Not ein Huhn gestohlen hatten. Zur Freude des Königs überführte die Maschine seine beiden Rossknechte, die heimlich die Springpferde des Königs verschachern wollten. Alle ihre verwirrenden Züge nützten ihnen wenig, denn die Maschine hatte alles gehört, gesehen und aufgezeichnet.
Kurz danach erwischte die intelligente Maschine den ersten, dann auch noch den zweiten Läufer des Königs, die das Geld der Bauern haufenweise unterschlagen hatten. Da war der König schon leicht erstaunt, denn so etwas hatte er nicht erwartet.
Und die Maschine arbeitete unverdrossen weiter, und bevor sich der König von seinem Staunen erholen konnte, kam sie zwei vornehmen Rittern in ihren stolzen Türmen auf die Schliche, die den König schmählich an amerikanische Unternehmen verraten wollten. Der König erschrak und überlegte, ob es vielleicht nicht besser wäre, sich der unheimlichen Maschine zu entledigen.
Doch schon hatte die Maschine die Königin in flagranti erwischt wie sie den gegnerischen König umarmte. Dem König wurde angst und bange. Er war nun ganz einsam und allein. Er liess den Ingenieur zu sich kommen, ihn zu bitten, die Maschine wieder in eine einfache Schachmaschine zu verwandeln. Zu spät, denn es wurde aufgedeckt, dass der König seine Untertanen jahrelang betrogen und ausgenützt hatte. Bald war der König von aufgebrachten Bauern eingekreist und matt gesetzt.
So war das schwarze Königreich vollständig sauber geräumt, und der Ingenieur zog mit seiner Maschine weiter, in andere Reiche, wo gleichfalls unbestechliche Intelligenz notwendig war.
Der einsame Metallvogel
Früher, zur Zeit der vergangenen Zivilisation, kannten die Menschen das Geheimnis, riesige Metallvögel zu bauen, die schneller als der Wind waren und höher als die Wolken flogen. Sie waren so gross wie Häuser, und in ihrem Bauch hatten ganze Dorfschaften Platz. Scharen dieser Metallvögel hätten damals - so heisst es - den Himmel bevölkert und mit ihren Schwingen die Sonne verdunkelt. Als die alte Ordnung zusammenbrach, ging auch das Geheimnis der eisernen Vögel verloren. Zum Schluss blieb nur ein Metalvogel übrig, und er flog einsam über eine fast technikleere Welt.
Wie der letzte dieser Metallvögel eines Tages über ein frisch geschnittenes Aehrenfeld zog, sah er unten eine Schar Spatzen, die fröhlich nach Körner pickten und allerhand Frechheiten zwitscherten.
"Kann ich Eurer Freund sein?" fragte der Metallvogel, und die Spatzen nickten ihm freundlich zu. Der Metallvogel versuchte auf dem Aehrenfeld zu landen und pflügte mit seinen eisernen Klauen so tief in den Boden, dass die Erdbrocken weit herumflogen und die Körner in alle Winde zerstoben.
Da begannen die Spatzen zu schimpfen und riefen ihm wütend zu: "Du hast unseren gedeckten Tisch zerstört. Du kannst nicht unser Freund sein." Sie verjagten den Metallvogel mit heftigem Geschrei.
Der flog enttäuscht weiter und kam zu einem grossen Wald. Dort sassen zwei Spechte und hieben ihre Schnäbel im Takt in die Rinde einer Eiche.
"Kann ich Euer Freund sein?" wollte der Metallvogel wissen. Die Spechte morsten ihm zu, er solle mit ihnen zusammen Borkenkäfer aus dem Baum klopfen. Der Metallvogel liess sich nicht zweimal bitten und stiess mit seinem eisernen Schnabel gegen die Eiche, so heftig, dass diese umfiel und nur noch ihre Wurzeln gegen den Himmel hob.
"Du bist ein taktloser Rüpel. Du kannst nicht unser Freund sein", klopften die Spechte und verzogen sich eilends zu einem anderen Baum.
Verwirrt flog der Metallvogel weiter, um vielleicht doch einen Freund zu finden. Da kam er zu einem kleinen Garten, wo einige Truthähne um die Wette kreischten.
"Kann ich Euer Freund sein?" bat der Metallvogel. Die Truthähne blickten ihn misstrauisch an und fragten: "Kannst Du ebenso laut kreischen wie wir?"
"Selbstverständlich", meinte der Metallvogel stolz. Er liess alle seine Motoren aufheulen, so dass alle Blumen zitterten und den Truthähnen ihre Kämme puterrot aufschwollen. Die Hähne eilten erschreckt in einen Schuppen und liessen sich nicht mehr blicken.
Traurig flog der Metallvogel weiter, bis er zu einem Teich kam, in dem friedlich einige Enten brüteten.
"Kann ich Euer Freund?" getraute er zu fragen. "Wieso nicht!" schnatterten die Enten: "Du kannst sicher auch Eier legen, so wie wir." Da stieg der Metallvogel höher und liess ein grosses Metallei in den Teich fallen. Es gab einen lauten Knall. Eine meterhohe Wasserfontäne bespritzte die erschrockenen Enten, die ihre Eier eilig unter ihren Flügeln versteckten. Aufgeregt schrien sie dem Metallvogel zu: "Deine Eier sind zu gefährlich. Du kannst nie unser Freund sein!"
Mutlos flog der eiserne Vogel weiter und weiter über das Land, einen schwarze Trauerschleier hinter sich schleppend, bis er zu hochaufsteigenden Bergen mit schneebedeckten Kappen kam. Hier traf er hoch oben einen alten Adler, der soeben - nach langem Ringen - den Zaunkönig endgültig enttrohnt hatte.
"Kannst Du mein Freund sein?" versuchte es der Metallvogel. "Vielleicht", schnarrte der Adler: "Doch zuerst wollen wir sehen, wer höher fliegen kann."
So begannen beide immer höher zu steigen, so hoch, dass unter ihnen die Berge zu Hügeln schrumpften und die Luft immer dünner wurde. Als der Adler sah, dass der Metallvogel mühelos weiter stieg, gab er fluchend auf und liess ihn zurück. Der stieg weiter, bis sich die Erde unter ihm zu krümmen schien. Dort oben, von der Erde aus nicht zu sehen, fliegt der letzte Metallvogel heute noch, einsam und allein.
Der Müller und der schwarze Fremde
Früher, als die Menschen den Maschinen vertrauten und ihre Seelen in Eisen und Beton gefangen waren, lebte einmal ein Müller, der eine kleine Windmühle sein eigen nannte.
Wenn der Wind wehte, mahlte er Getreide, und wenn sich der Wind nicht rührte, spielte er mit seinen zwei Töchtern. Er lebte friedlich, geruhsam und zufrieden.
Eines Tages suchte ihn ein in schwarze Seide gekleideter Fremder mit pechschwarzem Bart auf. Der Fremde traf den Müller bei Windstille friedlich schlafend vor seiner Mühle.
"He, Ihr, warum arbeitet Ihr nicht?" empörte sich der Fremde und rüttelte den Müller wach.
"Ihr seht doch, es weht kein Wind, weit und breit", entgegnete der Müller und wollte wieder einnicken.
Der schwarze Fremde lachte hell auf. "Warum auf den unsteten Wind vertrauen? Ich kann euch eine Maschine besorgen, wenn Ihr wollt, die mahlt das Getreide Tag und Nacht. Da braucht Ihr nicht auf den Wind zu warten und könnt arbeiten, wann Ihr Lust habt."
Der Müller kratzte sich den Kopf und überlegte hin und her. Allmählich setzte sich der Gedanke an diese wunderbare Maschine fest. So liess er sich vom schwarzen Fremden die Maschine besorgen.
Tatsächlich, es war, wie der Fremde es versprochen hatte: Die Maschine mahlte Tag und Nacht ohne Unterlass. Es war dem Müller eine reine Freude, ihrem rasch schlagenden eisernen Herz zuzuhören und ihren unermüdlichen, stählernen Rädern zuzusehen. Der Müller schleppte all sein Getreide zur Mühle. Im Nu lag es fein gemahlen und in Säcken abgefüllt zum Abtransport bereit.
Als alles Getreide gemahlen war, knirschte die Maschine ungeduldig mit ihren Eisenzähnen und verlangte nach mehr Getreide. So schickte der Müller seine beiden Töchtern zu den Bauern, neues Korn zu holen. Da die Maschine unersättlich war, mussten des Müllers Töchter, statt wie früher zu spielen, Tag für Tag immer weitere Wege unternehmen, um genügend Korn zusammenzubringen. Bald waren sie den ganzen Tag und häufig auch die halbe Nacht unterwegs, hinter jedem Bauern her, der noch Getreide zu mahlen hatte.
Dies sahen die anderen Müller in der Gegend gar nicht gern. Aber gegen die rasche und sorgfältige Arbeit der maschinellen Mühle kamen sie mit ihren alten Windmühlen nicht an. Einer nach dem anderen mussten sie ihre Mühlen schliessen und mit ihren Habseligkeiten die Heimat verlassen, um irgendwo, in unbekannten Gefilden, Arbeit zu suchen.
Nur einer aus der Gegend war schlau, und er besorgte sich beim schwarzen Fremden selbst eine Mahlmaschine, wie sie unser Müller besass. Mit allen Tricks kämpften beide Müller in der Folge um die Gunst der Bauern. Wo sie früher gemeinsam gekegelt und gejasst hatten, gingen sie einander aus dem Weg, jeder auf den anderen schimpfend.
Unser Müller wurde blass und dünn, denn trotz aller Bemühungen konnte er seine gierige Maschine nicht satt kriegen. Der andere Müller nahm ihm zuviel Getreide weg. In seiner Not ging er zum schwarzen Fremden und bat ihn um Hilfe. Der lachte laut und bot dem Müller eine neue Maschine an, die noch rascher und noch feiner zu mahlen vermochte.
Damit hatte der andere Müller bald ausgekämpft. Er und sein Sohn verliessen, arm geworden, ihre Heimat; heftig beweint von des Müllers ältester Tochter, die ihren Geliebten verlor.
Unser Müller lachte sich ins Fäustchen, denn jetzt war er der einzige Müller weit und breit. Alle Bauern der Gegend waren auf seine Mühle angewiesen, was er ihnen bald zu spüren gab.
Alles ging gut, wenn man davon absieht, dass beide Töchter ihren hartherzig gewordenen Vater verliessen. Dem Müller war es egal. Er hatte jetzt zwei Mäuler weniger zu stopfen, und allein kam er mit der Maschine gut zurecht.
Eines Tages blieb jedoch die Maschine unverhofft stehen, und unser Müller war ratlos. Wiederum suchte er den schwarzen Fremden auf und bat ihn händeringend um Hilfe.
Der Fremde kam, sah sich die Maschine gründlich an und erklärte, der Fehler liege am Korn. Die neue Mahlmaschine könne nur trockenes Getreide richtig mahlen. Selbst bei nur leicht feuchtem Korn bleibe sie zwangläufig stehen.
So nahm der Müller nur noch trockenes Getreide zum Mahlen entgegen, und wenn einer mit feuchtem Korn kam, wurde er unbarmherzig abgewiesen und musste selber sehen, wie er zurechtkam. Den Bauern blieb nichts anderes übrig, als auf warmes, sonniges Wetter zu hoffen.
In einem der Jahre regnete es jedoch nahezu ununterbrochen. Keiner der Bauern konnte hoffen, trockenes Korn zu ernten. In ihrer Not gingen auch sie zum schwarzen Fremden, vom dem sie schon viel Gutes gehört hatten.
Wirklich, er wusste ihnen Rat. Sie sollten jenes gelbe Pulver über die Felder streuen, und das Korn würde reif werden, als ob die Sonne schiene.
Die Bauern taten, wie ihnen der schwarze Fremde geraten, und tatsächlich, das Korn wuchs selbst im Regen goldgelb und blieb schön trocken. Wen störte es, dass die Vögel, die vom Korn gepickt, tot vom Himmel fielen und auf den Feldern die Igel im Todeskampf aufschrien, bis auch der letzte Laut verstummte. Nur die Ratten gediehen besser denn je und frassen sich kugelrund.
Den Müller ging alles nichts an. Er hatte nun genügend reifes Korn, und seine Maschine mahlte unermüdlich schön weisses Subventionsmehl.
So hätte er, reich geworden, sich endlich von seiner Arbeit ausruhen können. Aber er arbeitete weiter, denn er vermochte das Geräusch seiner Maschine nicht mehr zu missen. Beide, die Maschine und sein Herz schlugen den gleichen Takt.
Der furchtlose Junge
Es war einmal ein Junge, der alles besass, was sich nur wünschen liess. Er besass gutmütige Eltern, wohnte in einem geräumigen Haus und kannte keine Probleme. Er war so normal, wie man nur normal sein konnte. Keinem Seelenjäger war es je gelungen, ihm irgendwelche Abnormität nachzuweisen.
Aber glücklich war der Junge nicht. Denn rundherum pflegten alle seine Freunde ihre anerkannten Neurosen und durften sich in die feinsten Therapien begeben. Sein bester Freund etwa hatte grundlose Angst vor Büchern und war ein anerkannter Bibliophobe, dem man alle Schriften aus dem Weg räumte. Ein anderer Freund durfte sich einer Ailurophobie erfreuen und seiner tiefempfundenen Abscheu vor Katzen überall offen Ausdruck geben. Der Sohn des Nachbars wiederum war stolzer Träger einer Linonophobie. Seine Furcht vor Bindfäden liess jedes Analytikerherz höher schlagen. Er wurde an der Universität als 'hochinteressanter Fall' herumgereicht und war der offenkundige Stolz seiner ganzen Familie.
Nur unser Junge war stinknormal, so dass ihm alle Psychologen und Therapeuten auswichen und vor ihm verächtlich die Schultern zuckten. Nicht einmal eine simple Klaustrophobie vermochte er nachzuweisen. Er war die Schande seiner ganzen Familie, und die Nachbarsjungen lachten ihn hemmungslos aus.
So verliess er eines Tages tiefbetrübt seine Eltern, um sich im nahegelegenen Bergweiher zu ertränken. Ein Selbstmord vermochte zumindest seinen Nachruf zu retten. Auf dem Weg traf er eine alte Frau, die auf ihrem Rücken eine schwere Bürde Holz heimtrug. Der Junge grüsste die alte Frau und anerbot sich, ihr das Holz heimzutragen. Sie dankte ihm und fragte nach seinem Herkommen und seinem Weg. Der Junge klagte ihr sein grosses Leid und erzählte von seiner Absicht, sich im Weiher zu ertränken. Er war es lebensmüde, normal zu sein.
Die alte Frau empfand mit ihm grosses Mitleid, und so gab sie ihm den Rat, in der Hauptstadt den weisen Meister der Seele um Hilfe zu bitten. Er könne sicher helfen. Er habe auch ihr geholfen, ihre Kategelophobie, ihre urgründige Angst vor Hohn und Spott, erfolgreich vor jeder unüberlegten Heilung zu bewahren. Der Meister der Seele blicke tiefer als jeder andere, und er kenne die Verwirrungen der menschlichen Psyche wie kein anderer.
Der Junge dankte der alten Frau und tat, wie ihm geraten. Er eilte in die Hauptstadt und bat den weisen Meister flehentlich um Hilfe.
Der grosse Meister der Seele legte den Jungen auf seine Couch und hörte sich sein Leid an. Er überlegte einige Zeit. Dann setzte er den Jungen vor einen viereckigen Kasten, auf dem in farbenfrohen, lebendigen Bildern alle Schrecken dieser Welt aufleuchteten. Der Junge sah mächtige Metallungeheuer schöne, alte Häuser abreissen. Er sah feiste Männer, die mit glänzenden Augen eine fahrende Kiste anbeteten. Er erblickte schaumbeladene Flüsse, in denen Fische verzweifelt nach Luft schnappten und riesige Fabriken, deren Rauch grüne Wälder verdorren liessen. Aber alle Schrecken liessen den Jungen kalt. In seinem Herz wollte keine Angst aufkeimen. Selbst Bilder von hungernden Kindern und bombenzerstörten Städten berührten ihn nicht.
Wie der Meister der Seele dies sah, schüttelte er den Kopf und blätterte vergebens in dicken Büchern. Zornig schrie er dem Jungen ins Gesicht: "Du gehörst zu den Verfluchten, die alles verdrängen. Dir kann keiner helfen. Deine Angst vor der Angst sitzt zu tief!"
Da lachte der Junge lauthals und rief begeistert: "Genau, Angst vor der Angst, Furcht vor der Furcht, das ist, was mir fehlt!" Er lief so rasch wie möglich heimwärts, um allen seine Phobophobie vorzuführen und durch die besten Psychologen seiner Heimatstadt bestätigen zu lassen. So lebte er fortan ebenso glücklich und geachtet wie alle seine neurotischen Freunde, in der Gewissheit, der unschicklichen Normalität endlich entronnen zu sein.