François Höpflinger
Konzeptuelle Grundsätze und essentielle Elemente einer modernen Alternsforschung
Die nachfolgend aufgeführten Grundsätze der Alternsforschung bilden das paradigmatische Gerüst für eine gesamtheitliche und interdisziplinäre Analyse von Alternsprozessen in modernen Gesellschaften:
1. Grundsatz: Beim Altern handelt es sich um einen dynamischen Prozess (und nicht um einen Zustand). Im Rahmen dieses dynamischen Prozesses des Alterns entstehen immer wieder neue Herausforderungen, sowie ein fortwährend verändertes Wechselspiel zwischen Verlusten und Gewinnen wie auch ein dynamisches Verhältnis der Einflüsse sozialer, psychischer, körperlich-biologischer Faktoren auf Alternsverläufe. Zentral für die moderne Gerontologie ist die grundlegende Annahme (aber auch empirisch bestätigte Beobachtung), dass diese Dynamik nicht einseitig nur in Richtung von Verlusten weist, sondern dass es auch im höheren und hohen Lebensalter zu Gewinnen kommen kann.
2. Grundsatz: Das körperliche Altern ist ein biologisch und sozio-medizinisch beeinflusster Prozess, und Alternsprozesse sind immer auch - wenn sicherlich nicht ausschliesslich - mit körperlich-kognitiven Veränderungen verbunden, wobei mit steigendem Alter körperlich-funktionale Einschränkungen und hirnorganische Erkrankungen häufiger werden. Körperlich wird konzeptuell häufig zwischen normalem Altern und krankhaftem Altern unterschieden (wobei sich das, was als normal bzw. krankhaft gilt, je nach gesellschaftlichen Verhältnissen und medizinischen Kenntnissen verschieben kann. Gleichzeitig kann es zu spürbaren Diskrepanzen zwischen körperlicher Alterung und selbstdefiniertem psychischem Altersgefühl kommen.
3. Grundsatz: Altern ist ein lebenslanger und biographisch-lebensgeschichtlich verankerter Prozess. Damit angesprochen werden einerseits biographisch-lebensgeschichtliche Prägungen, welche das höhere Lebensalter mitbeeinflussen (wobei die biographischen Einflüsse generationenbezogen bzw. kohortenspezifisch variieren). Andererseits geht es um die Perspektive einer lebenslangen Entwicklung (was auch lebenslanges Lernen und lebenslanges Gestalten einschliesst). Menschen im hohen Alter haben damit nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine (zu gestaltende) Zukunft, auch wenn sich im hohen Alter klare Grenzen ergeben.
4. Grundsatz: Altern ist auch ein sozial-gesellschaftlich bestimmter Prozess. Die soziale Umwelt und die gesellschaftlichen Verhältnissen haben einen wesentlichen Einfluss auf das individuelle Altern (und auch auf körperliche Alternsprozessen). Entsprechend weisen gleichaltrige Menschen je nach sozialer Lebenslage und den gesellschaftlichen Verhältnissen ein unterschiedliches Alter auf. Allein schon die Chancen, alt zu werden, sind sozial ungleich verteilt, und primär sozial abgesicherte Menschen können von einer langen gesunden Lebenserwartung profitieren.
5. Grundsatz: Alternsprozesse sind in vielen Bereichen ein Produkt von persönlichen Faktoren und sozial-räumlicher Umwelt. Eine gute Passung von Person und Umwelt ist ein zentraler Faktor für ein hohes Wohlbefinden oder eine lange Selbständigkeit im Alter. Je stärker körperliche Einschränkungen auftreten, desto wichtiger wird eine altersgerechte (hindernisfreie) Umwelt, welche körperlich bedingte Einschränkungen zu kompensieren vermag.
6. Grundsatz: Altern ist wesentlich auch ein ökonomisch bestimmter Prozess, und je nach ökonomischen Ressourcen hat das Alter eine je andere Prägung. Armut und vorzeitige Morbidität und Mortalität sind eng verknüpft, und ein hohes Wohlbefinden im Alter ist mit einer guten wirtschaftlichen Absicherung des Rentenalters assoziiert. Wirtschaftliche Ressourcen bestimmen aber auch den Zugang zum Gesundheitssystem, und ungenügende wirtschaftliche Ressourcen können dazu beitragen, dass Alternsprozesse früh- und vorzeitig zu Abhängigkeit führen.
7. Grundsatz: Altern ist immer auch ein geschlechtsbezogen differenzierter Vorgang, und sowohl was körperlich-biologische Alternsprozesse als auch was soziale Alternsrisiken betrifft, werden immer wieder deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede sichtbar. Die insgesamt höhere Lebenserwartung von Frauen führt zudem dazu, dass das (hohe) Alter primär weiblich ist.
8. Grundsatz: Altern ist immer ein differenzieller Prozess, und zwar gilt dies sowohl intra-individuell als auch inter-individuell: Die körperlichen Alternsprozesse sind intra-individuell unterschiedlich, und jedes Organ altert anders. Gleichzeitig zeigen sich enorme inter-individuelle Unterschiede der körperlichen Alternsprozesse, wie aber auch der psychischen Befindlichkeit im Alter. Tendenziell nehmen die Unterschiede zwischen Personen mit steigendem Lebensalter eher zu, und chronologisch gleichaltrige Menschen sind in allen Dimensionen eine sehr heterogene Gruppe.
9. Grundsatz: Altern ist ein multi-dimensionaler Prozess, und zwar in dem Sinne, dass individuelles Altern gleichzeitig auf sehr verschiedenen Ebenen (Körper, Kognition, Psyche, Identität, soziale Rollen u.a.) stattfindet. Verschiedene Dimensionen des Alters sind zwar interkorreliert, aber die Korrelationen sind nicht immer sehr stark. Die Multi-Dimensionalität von Alternsprozessen bedeutet auch, dass damit auch sichtbare Diskrepanzen unterschiedlicher Aspekte des Alterns auftreten können (etwa wenn ein gegen aussen sichtbares körperliches Alter mit einem jung gebliebenen Selbst kombiniert sind).
10. Grundsatz: Altern ist ein multi-direktionaler Prozess, und Darstellungen von Alternsverläufen, die eine lineare Abnahme zeigen, verzerren die Realität. Erstens sind die altersbezogenen Entwicklungsverläufe verschiedener Dimensionen sehr unterschiedlich, wie namentlich Studien zu verschiedenen kognitiven Funktionen immer wieder nachweisen. Zweitens ist das Bild einer linearen altersbezogenen Abnahme etwa von Fähigkeiten eine starke Vereinfachung, da selbst im hohen Alter bei ausgewählten Dimensionen auch positive Entwicklungen beobachten lassen (etwa Wiedergewinn von Selbständigkeit).
11. Grundsatz: Alternsprozesse bewegen sich zwischen Objektivität und Subjektivität. Damit wird angesprochen, dass in vielen - wenn auch nicht in allen - Bereichen nicht allein die objektiven Fakten (Krankheit, Beschwerden), sondern auch deren subjektive Wahrnehmung und Interpretation bedeutsam sind, etwa für das Wohlbefinden. Speziell im hohen Alter sind subjektive Bewertungen oft - wenn auch nicht immer - bedeutsamere Erklärungsfaktoren als objektive Messgrössen. Die Bewertung von Ereignissen ist oft ārealer' als das objektive Geschehen, und subjektive Elemente sind für das Alltagsleben alter Menschen häufig relevanter als objektive Fakten. Gleichzeitig zeigt sich im Alter häufig eine ausgeprägte Diskrepanz zwischen objektiven Fakten und subjektiver Bewertung. Ein klassisches Beispiel ist, dass alte Menschen ihre subjektive Gesundheit besser einschätzen als dies gemäss objektiven Kriterien der Fall wäre.
12. Grundsatz: Altern ist ein plastischer Prozess, mit Grenzen. Der Begriff der Plastizität des Alters spricht an, dass Alternsprozesse auf den unterschiedlichsten Ebenen stark gestaltbar ist. So kann gezieltes Muskeltraining auch im hohen Alter die Muskelkraft wesentlich steigern. Ebenso können Lern- und Gedächtnistraining im Alter hirnorganisch bedingte Einbussen wirkungsvoll kompenĀsieren. Menschen haben auch im Alter vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten und es bestehen vielfältige Strategien zur Nutzung und Stärkung vorhandener Reservekapazitäten. Dies wird durch entsprechende Interventionsstudien immer wieder nachgewiesen. Gleichzeitig ist allerdings zu berücksichtigen, dass speziell im hohen Alter die Gestaltbarkeit namentlich körperlicher Prozesse auch auf Grenzen stösst (und Hoffnungen auf eine ewige Jugend erweisen sich als Illusion).
Verwendete Literatur:
Backes, Gertrud; Clemens, Wolfgang (2008) Lebensphase Alter, Weinheim: Juventa Verlag.
Höpflinger, François; Stuckelberger, Astrid (1999) Demographische Alterung und individuelles Altern, Zürich: Seismo (2.Auflage: 2000).
Kruse, Andreas; Martin, Mike (Hrsg.) (2004) Enzyklopädie der Gerontologie. Alternsprozesse in multidisziplinärer Sicht, Bern: Huber.
Wahl, Hans-Werner, Heyl, Vera (2015) Gerontologie - Einführung und Geschichte, Stuttgart: Kohlhammer.
letzte Aenderung: Februar 2018
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